top of page
Martin Wyss

"Sprenge die Kette!"



(verfasst am 24.12.2023)



Als ich diesen Sommer mit meinem Handy das obige Gemälde im Musée d'Orsay in Paris geschossen hatte, wusste ich noch nicht, warum ich das Bild danach zu meinem Handy-Hintergrund erkoren habe. Aber seit diesem Tag begleitet mich diese Szene Tag für Tag. Nie habe ich mir darüber gross einen Kopf gemacht. Es war einfach da.



Das Bild zeigt einen Engel in rotem Umhang, in der einen Hand ein Schwert, mit der anderen einen Menschen anweisend eine Tür aufzubrechen. Der Engel befiehlt nicht, er leitet an. Keine Zeit für Erklärungen, es muss rasch gehandelt werden. Er schwebt über dem Menschen, wer weiss, ob der Mann mit dem Brecheisen den Engel sieht oder nicht. Doch er handelt.Ohne die Inspiration von oben, ohne eine spontane Eingebung "so und nicht anders", hätte er vielleicht gezaudert und wäre feige und ängstlich davongelaufen.

Erst jetzt, auf der Zugfahrt nach Arosa zum alljährlichen Weihnachtsfest, die schneebedeckten Berge sanft von abendlichem Winterlicht beleuchtet und nach einer schönen freundschaftlichen Handlesung im Café Maron in Chur, wird mir die Bedeutung des Bildes plötzlich bewusst und ich greife zum Laptop um meine Gedanken festzuhalten.

Es wird mir klar, warum mich dieses Ölbild so beeindruckt hat. Dieser Engel beschreibt den Kern meiner Arbeit als Handleser. Ich bin ein Kettensprenger. Der Engel auf diesem Gemälde ist kein Engel der Sanftmut, er ist ein Engel des Kampfes und der Befreiung. Das Rot seines Umhanges symbolisiert heiligen Zorn, das innere Feuer wird entfacht, bringt das Blut zum Kochen und setzt eine unbändige Kraft frei, von denen der allzu wohlerzogene moderne Mensch wenig Ahnung hat.

Ich habe sagen gehört, dass Kühe locker über die Elektrozäune springen könnten - wenn sie es bloss wüssten! Sinnbild für das menschliche Schicksal. Mit den ent-hornten, zahmen und lieben Kühen, von einem harmlosen Stück Draht im Zaum gehalten, haben wir uns ein Bild unserer eigenen Domestikation plastisch vor Augen gestellt.

Ganz anders die Situation auf dem Gemälde. Die Kraft, der Mut, die Dringlichkeit darin sprechen mir aus der Seele und ich möchte Euch allen zurufen: "Sprengt Eure Ketten!"
Viele Menschen leben weit unter ihrem Potential, weil sie eine diffuse Angst vor dem Leben haben. Es ist kein echtes Vertrauen da; Vertrauen, dass wir alle von einer unsichtbaren Quelle auf unserem Lebenspfad unterstützt werden.

Ab und zu schaue ich mir auf Youtube wieder ein Video von Franz Dschulnigg an. Herr Dschulnigg ist ein älterer Herr, der unermüdlich Video-Interviews zu dem einen Thema macht: Nahtoderfahrungen.
Menschen die eine intensive Nahtoderfahrung gemacht haben, sind hinterher nicht mehr dieselben. Sie sind von etwas Besonderem tief im Herzen berührt worden, etwas, das weit über die normale Alltagserfahrung hinaus geht. Sie erinnern sich an das Grosse und Unendliche, was hinter allen Erscheinungen steht. Und etwas von diesem Gefühl geht dann manchmal auch auf mich über, tröstet und ermutigt mich wieder.

Oft wird von Energiewesen berichtet, die den "Nah-Toten" den Übergang verwehren, dahin, woher es keine Rückkehr mehr gibt. Von diesen Wesen - man kann sie Engel nennen - geht eine absolute und auf keine Art und Weise verhandelbare Autorität aus. Sie sprechen aus einem Wissen heraus, welches jeglicher menschlichen Überheblichkeit spottet.

Immer wieder müssen wir demütig zu uns selber finden um in Kontakt mit unserer inneren Autorität zu kommen, eine Instanz, die immer das Beste, vielleicht aber nicht das Angenehmste und Bequemste für uns will. Diese allerinnerste Stimme, da bin ich mir sicher, spricht dieselben Worte, die auch ein solch strenger Engel zu uns sprechen würde. Seine Worte sind klar, einfach, direkt und voller Respekt und Liebe.


Die Befreiung aus den selbstgeschmiedeten Ketten ist auch mein persönliches Thema. Und ich kann es bezeugen - es ist alles andere als einfach. Aber ich könnte kein anderes Leben leben. Und ich spüre ganz stark und mit jeder Faser meines Leibes, wenn jemand vor mir sitzt, der auch angekettet ist, seine Ketten aber noch nicht richtig wahrnimmt. Das ist schmerzhaft. Es fühlt sich an wie ein Stich ins Herz.


Ich sehe es als einen wichtigen Teil meiner Arbeit als Handleser, den Menschen bei ihrer Befreiung und Entfaltung zur Seite zu stehen. Wir können uns im Kollektiv den Luxus der selbstgewählten inneren Sklaverei nicht mehr länger leisten und viele werden es auch nicht mehr lange tun.

Die Zeit ist reif, die Verantwortung für alle Facetten des Lebens in die eigene Hand zu nehmen. Doch wir sind nicht allein. Das Symbol des Engels begleitet uns in der dunkelsten Stunde und wispert uns ganz leise in die Seele was es als nächstes zu tun gibt.

So wächst unser Vertrauen in das Leben selbst, Tag für Tag, langsam und unaufhaltsam wie ein Baum, der der Sonne entgegenwächst und wie ein kleiner Spross, der es vermag mit unendlicher Geduld, Vertrauen und Beharrlichkeit den härtesten Fels zu spalten.

93 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Comments


bottom of page